19.11.2020 | Mobilität und Verkehr
„Die Wiederaufnahme des Schienenverkehrs würde eine deutliche Aufwertung der Region darstellen“
Wiesbaden hat in einem Bürgerentscheid gegen die Citybahn votiert – damit ist das Projekt auch für den Untertaunus beendet. Anders als in der Wiesbadener Innenstadt liegen in Taunusstein, Bad Schwalbach und weiter bis nach Diez allerdings bereits Gleise, der bislang stillgelegten Aartaltrasse. Die Reaktivierung der Strecke auf Normalspur rückt jetzt als Alternative für eine Schienenverbindung zwischen Rheinland-Pfalz und dem Rheingau-Taunus-Kreis nach Wiesbaden – und damit ins Zentrum der Metropalregion FrankfurtRheinMain – in den Fokus.
Bereits im Frühjahr hatte der Magistrat der Stadt Taunusstein die Verkehrs- und Raumplaner des Büros Planersocietät beauftragt, parallel zum Ergänzungsbericht für den Verkehrsentwicklungsplan 2030 alternative Optionen zu eruieren, sollte die Citybahn scheitern. Denn: In der größten Kommune des Rheingau-Taunus-Kreises liegt nicht nur ein zentrales Teilstück der Trasse – hier führt sie auch mitten durch Wohngebiete in den größten Stadtteilen.
Der Taunussteiner Bürgermeister Sandro Zehner sieht für die jahrzehntelang ungenutzte Strecke großes Potential, um die Anbindung des Untertaunus für die großen Pendlerströme Richtung Wiesbaden, Mainz, Frankfurt und in die gesamte Rhein-Main-Region nachhaltig und zukunftsorientiert zu gewährleisten.
PERFORM: Was erhofft sich Taunusstein mit einer Wiederinbetriebnahme der Aartalbahn und wie unterscheidet sie sich von dem ad acta gelegten Citybahnprojekt?
Sandro Zehner: Die Wiederaufnahme eines schienengebundenen Nahverkehrs würde eine deutliche Aufwertung von Taunusstein, aber auch benachbarter Gemeinden wie Heidenrod und Aarbergen darstellen. Rund 70.000 Menschen aus dem Rheingau-Taunus-Kreis würden durch die Aartalbahn von einer attraktiven Anbindung an das Rhein-Main-Gebiet profitieren. Aktuell pendeln etwa 10.000 Bewohner der Region Untertaunus nach Wiesbaden oder darüber hinaus; und das Verkehrsaufkommen nimmt dabei von Jahr zu Jahr zu. Die Citybahn hatte unbestreitbare Vorteile, weshalb wir auch hinter dieser Lösung gestanden haben. Aber ohne die Anbindung an Wiesbaden fehlt natürlich auch für Taunusstein und die Region der Sinn einer Straßenbahn.
Die Alternative der Aartalbahn-Idee hat den Charme, dass man auf stillgelegte DB-Trassen zurückgreifen kann. Zudem würde, wenn die Gesamtstrecke bis nach Diez einmal fertiggestellt ist, das Umsteigen in Bad Schwalbach entfallen, wie es noch das Citybahn-Konzept vorgesehen hatte. Unser Interesse in Taunusstein gilt zunächst dem Teilabschnitt Bad Schwalbach – Wiesbaden. Entscheidend ist hier die direkte Anbindung des Wiesbadener Hauptbahnhofs: Diese Verbindung würde eine wichtige Schnittstelle für die Anbindung des Rheingau-Taunus-Kreises an den Wiesbadener Nahverkehr sowie an den Regional- und Fernverkehr bedeuten.
PERFORM: Gibt es einen Austausch zu den Orten der benachbarten rheinland-pfälzischen Verbandsgemeinde Aar-Einrich? Unterscheiden sich die Interessen? Und wie gestaltet sich der Austausch?
Sandro Zehner: Über die Interessensgemeinschaft „Wir von der Aar“ besteht bereits ein reger Informationsaustausch der Aar-Gemeinden zu beiden Seiten der Landesgrenze. Das Interesse ist auf beiden Seiten vorhanden. Schon seit den ersten Reaktivierungsbestrebungen der Aartalbahn werden in diesem Rahmen auch Nutzungskonzepte diskutiert, die Synergien für den rheinland-pfälzischen Nord-Abschnitt bringen würden. Für alle Aar-Gemeinden stellt die Aartalbahn zudem eine willkommene Möglichkeit dar, den Verkehr der parallel verlaufenden B54 zu entlasten.
PERFORM: Der Rechnungshof des Landes Rheinland-Pfalz hatte sich zuletzt aus Kostengründen gegen eine Reaktivierung der Aartalbahn zwischen Hahnstätten und Diez ausgesprochen. Wäre hier nicht eine engere, länderübergreifende Zusammenarbeit notwendig, um sowohl Kosten als auch Nutzen für die gesamte Metropolregion FrankfurtRheinMain aber auch für den Ballungsraum Koblenz-Limburg-Diez darzustellen?
Sandro Zehner: Zunächst einmal: Die Zusammenarbeit ist intensiver als sie wahrgenommen wird. Aber wir können nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Die historische Aartalbahn ist – auch aus Kostengründen – in mehreren Teilabschnitten geplant worden und ist zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Betrieb gegangen. Für die konkrete Kosten-Nutzen-Untersuchung ist eine Bewertung der einzelnen Teilabschnitte relevant, die sehr unterschiedliche Siedlungsstrukturen und damit Potentiale aufweisen: Während der südliche Abschnitt dicht bebaut ist, nimmt die Bevölkerungsdichte nach Norden hin ab. Die Chancen für die Förderung stehen dennoch nicht schlecht: Das Land Hessen hat für die kommenden Jahre Milliarden für die schienengebundene Anbindung des ländlichen Raums in Aussicht gestellt. Die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken hat dabei einen besonderen Stellenwert – und für die Aartalbahntrasse ist bereits eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben worden.
Für die Realisierung des südlichen Teilabschnitts stellen wir uns eine Projektbeteiligung von der RMV und dem Land Hessen vor, etwa nach dem Vorbild der geplanten Nordmainischen S-Bahn.
PERFORM: Das Projekt Citybahn war bei den Wiesbadener Wählern durchgefallen. Warum wurden eigentlich nur Wiesbadener Bürger befragt und was muss sich an der Kommunikationspolitik ändern, damit die Bürger den Nutzen eines solchen Verkehrsprojektes richtig einschätzen können?
Sandro Zehner: Der Abstimmung waren Bürgerbegehren von Wiesbadener Initiativen vorangegangen. Dies ist ein Teil unserer demokratischen Willensbildung. Die Wiesbadener haben für ihr Stadtgebiet entschieden, dass sie keine Straßenbahn wollen – damit macht das Projekt in dieser Form auch für Taunusstein wenig Sinn.
Klar ist, dass es bei solchen Projekten immer auch Nachteile für Personengruppen gibt. Es muss eine Abwägung zwischen berichtigter Partikularinteressen und des gesamtgesellschaftlichen Interesses getroffen werden. Als Lehre können wir einen hohen Anspruch an Transparenz mitnehmen. Ein Mangel an Kommunikation bildet schnell die Grundlage für Informationen, die bei näherem Hinsehen einem Faktencheck nicht standhalten – also Gerüchten, falschen Behauptungen und persönlichen Befindlichkeiten und dann gerät die Wahrnehmung des gesamten Projekts in Schieflage. Schon andere Projekte dieser Größenordnung haben gezeigt, wie wichtig die Betrachtung der Konfliktpotentiale, der unterschiedlichen Stakeholder und Interessengruppen ist und wie entscheidend es ist, die Sorgen und Fragen ernst zu nehmen und sie klar zu adressieren – ohne es jedem recht machen zu wollen.
PERFORM: Inwieweit dominiert die Aartalbahn die Verkehrsplanung in Taunusstein?
Sandro Zehner: Die Gleise der Aartalbahn laufen an Seitzenhahn vorbei und durchqueren die westlichen Stadtteile Hahn und Bleidenstadt. Eine Schienenanbindung an das Rhein-Main-Gebiet birgt vor allem hinsichtlich der Pendlerströme zu den Stoßzeiten Potentiale für uns und für die Region im Untertaunus. Dieses Potential eines schienengebundenen Verkehrs nicht zu nutzen, wäre angesichts des Verkehrsaufkommens schlicht fahrlässig. Trotzdem gehen damit auch wieder neue Mobilitätsfragen für uns einher: Wie kommen die Menschen aus unseren anderen Stadtteilen und der Region zu den Bahnhöfen? Wo stellen sie ihre Autos ab und wie können wir den innerstädtischen Verkehr besser und nachhaltiger organisieren?
Dafür müssen wir als Stadt integrierte und moderne Konzepte liefern. Ein Beispiel: Wir realisieren aktuell gemeinsam mit dem RMV in Taunusstein als Pilotkommune das vom Bund geförderte Projekt „OnDemand-Mobilität“. Dabei geht es vor allem um die „letzte Meile“. Wer heute mit dem Bus – oder künftig mit der Bahn – in Bleidenstadt ankommt und nach Watzhahn weiter muss, der kann ab kommenden Frühjahr telefonisch oder über eine App einen E-Minibus rufen und mit sehr fairen ÖPNV-Tarifen bis fast vor die Haustür gelangen. Ein Algorithmus koordiniert die Anfragen und stellt für den Fahrer eine optimale Route zusammen – das sogenannte Pooling. Das ist für uns ein Lückenschluss im intermodalen Konzept.
Die Zukunft der Mobilität in Taunusstein wird nicht allein mit der Aartalbahn zu lösen sein. Vor allem ist sie kein Selbstzweck. Für uns steht die Frage im Vordergrund, wie wir den Bürgerinnen und Bürgern unserer Stadt und der Region attraktive Angebote für ihre individuellen Bedarfe zur Verfügung stellen können – denn nur, wenn es auch in der Praxis funktionierende schnelle, bequeme und bezahlbare Konzepte gibt, werden die Menschen sie auch nutzen. Und nur dann wird eine Verkehrswende Realität.
Sandro Zehner (41) ist in zweiter Amtszeit Bürgermeister und Kämmerer der Stadt Taunusstein, der größten Kommune des Rheingau-Taunus-Kreises. Nach seinem Politikmanagement-Studium und dem Abschluss als Betriebswirt, arbeitete Zehner als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Büroleiter im Hessischen Landtag. Anschließend leitete er den Stabsbereich Politik und Koordination der Handwerkskammer Frankfurt-Rhein-Main. Ehrenamtlich ist Zehner unter anderem im Aufsichtsrat der Kommunalen Wohnungsbau (kwb) und Vorsitzender des Haupt- und Finanzausschusses im Rheingau-Taunus-Kreis sowie des Bau- und Planungsausschusses im Hessischen Städtetag.
Autor:
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Veronika Heibing
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Projektmanagerin PERFORM
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