08.01.2019 | Mobilität und Verkehr

Gastbeitrag: Stadt- oder Landleben ist nicht nur Schwarz oder Weiß

„Wann ziehst du eigentlich endlich vom Dorf nach Darmstadt?“ – Diese Frage wurde mir seitdem ich in Darmstadt arbeite schon häufiger gestellt. Wenn ich dann antworte, dass ich das gar nicht vorhabe, herrscht hin und wieder kurz betroffenes Schweigen.

Diese Betroffenheit ist aber nicht notwendig. Es haben mich keine widrigen Umstände oder fehlende Alternativen in das Umland von Darmstadt verschlagen, sondern ich habe mich bewusst dafür entschieden. Oftmals können eingefleischte Stadtmenschen eine solche Entscheidung nicht nachvollziehen. Alle Orte, die nicht mindestens über eine direkte S-Bahn-Anbindung in die City verfügen, werden schon als Randbezirk der Zivilisation wahrgenommen. Dabei gibt es bei der Entscheidung für Stadt- oder Landleben nicht nur Schwarz oder Weiß, sondern auch diverse Graustufen. Im Rhein-Main-Gebiet gibt es viele Möglichkeiten, an der Schnittstelle dieser zwei Modelle zu leben. In meinem Fall ist das Groß-Zimmern – eine Gemeinde mit rund 14.000 Einwohnern, die ca. 12 km vor den Toren Darmstadts liegt und auf den ersten Blick keine besonders hohe Anziehungskraft für Menschen besitzt, die mit dem Auto hindurchfahren. Hier sind meine Frau und ich aufgewachsen und nach unserer Studienzeit in Marburg und Berlin wieder bewusst zurückgekommen. Vermutlich war es unser Vorteil, dass wir die Vorzüge sowie Kompromisse des Lebens in Groß-Zimmern bereits kannten.

Die Mieten und Immobilienpreise sind zwar auch hier in den letzten Jahren deutlich gestiegen, halten aber trotzdem einen deutlichen Abstand zu den Preisen in Darmstadt oder Frankfurt. Nachdem ich in Marburg mehrere Monate Tür an Tür mit feierwütigen Schichtarbeitern gewohnt habe und keine Lust mehr auf lautstark gegrölte Zechlieder um 3 Uhr morgens unter der Woche hatte, weiß ich bezahlbaren Wohnraum mit etwas Distanz zum Nachbarn wirklich zu schätzen.

Neben den bezahlbaren Lebenskosten, kann ich dank der guten Lage zudem von den vielfältigen Möglichkeiten der Region profitieren: Ich arbeite in Darmstadt, meine Frau in Frankfurt. Ich bin in ca. 40 Minuten mit dem Bus bei der Arbeit, meine Frau in ca. einer Stunde. Natürlich ist das nicht immer einfach – vor allem wenn sich der Verkehr in Darmstadt oder auf der A5 nur in Zeitlupe bewegt oder der Busfahrer sporadisch kleine Schaffenspausen einlegt. Gerade die Möglichkeiten von Home Office machen das Pendeln aber erträglich. Auch die Auswahl an kulturellen Angeboten sind durch die gute Anbindung vielfältig: Konzerte in Frankfurt, Theater in Darmstadt, Weihnachtsmarkt im Odenwald und natürlich die Kerb in Groß-Zimmern (die jeder Stadtmensch einmal erlebt haben sollte) – alles ist relativ schnell erreichbar. Man kann sich gezielt entscheiden: Möchte ich die Angebote der Stadt nutzen oder steht mir der Sinn eher nach einem Ausflug in die Natur. Gerade das Arbeiten in Darmstadt und Frankfurt hat für uns den Vorteil, dass wir bei Bedarf einfach abends in der Stadt bleiben und uns mit Freunden treffen, die sich für den urbanen Lifestyle entschieden haben.

Gleichzeitig besteht ein großer Teil meines Freundeskreises aus Menschen, die zum Studieren oder Arbeiten mehrere Jahre in der Welt unterwegs waren und mittlerweile wieder in unmittelbarer Nähe wohnen. Insgesamt zeigt sich vor Ort eine schöne Mischung aus etablierten Strukturen, wie Kirchen oder Vereinen, und neuen Einflüssen, die durch das internationale Umfeld in der Region entstehen. Es kommt nicht selten vor, dass der eine oder andere hier besseres Englisch als Hochdeutsch beherrscht, da er beruflich viel im Ausland unterwegs ist und sich freut, zumindest das Wochenende in keiner überfüllten Großstadt verbringen zu müssen.

Wenn mich also jemand fragt, wieso ich nicht aus Groß-Zimmern weg ziehen möchte, gibt es keine eindeutige Antwort auf diese Frage. Für mich ist es tatsächlich die beschriebene Mischung aus diesen Punkten, die das Leben an der Schnittstelle zwischen Stadt und Land attraktiv machen. Und in der Region gibt es viele Beispiele wie Groß-Zimmern, wo es den Menschen sicher genauso geht.

Benedikt Porzelt
Autor:
  • Benedikt Porzelt
  • Referent IHK Darmstadt Rhein Main Neckar